Messetagebuch #lbm2024

283.000 Besucher konnten sich bei 2.085 Verlagen und Buchdienstleistern aus 40 Ländern über deren Buchprogramme informieren. Zudem nahmen sie an 2.800 Veranstaltungen mit 3.400 Beteiligten an über 300 Orten teil und besuchten Lesungen, Diskussionen oder Workshops. Diese Zahlen veröffentlichte die Messeleitung einen Tag nach der Leipziger Buchmesse, der Manga-Comic-Con und des Lesefests Leipzig liest, die vom 21. bis 24. März in der Messestadt stattfanden. Auch der Erzählverlag blickt aus der Perspektive des Verlegers Peter Amsler zurück.

Die unabhängigen Verlage aus dem Netzwerk Schöne Bücher, Maryna Hromenko und Karoline Hugler

während der Präsentation des Buches "Meer von Sonnenblumen", Messestand des Verlags in Halle 5

Mittwoch, 20. März 2024

Überall gibt es Absperrungen, uniformierte und in zivil auftretende Sicherheitsbeamte - meine Frau Susan und ich erkennen sie am Knopf im Ohr -, schwarze Limousinen, Blaulichter und lange Schlangen von Menschen, die neugierig auf Einlass warten. Das Gewandhaus hat sich zu einer Festung verwandelt mit höchster Sicherheitsstufe. Dabei wollten wir doch nur der Eröffnung der Leipziger Buchmesse beiwohnen, zum ersten Mal. In den Jahren zuvor hatten wir dafür keine Zeit. Aber ach: Der Bundeskanzler kommt ja vorbei, das hatten wir nicht mehr präsent, und drei weitere Regierungschefs, die offensichtlich alle ihre eigene Sicherheit mitgebracht haben. Drinnen gleicht das Gewandhaus sehr bald einem Schmelztiegel, in dem alles mit allem verwurstelt wird: Demokratie, Kulturpass, Drogenpolitik, Kant… um das Bücherlesen geht es auch. Wir sitzen auf dem obersten Rang und können in den nächsten drei Stunden allerhand Mischwaren bestaunen: Eine unvorbereitete Moderatorin vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk ARD - von der FAZ später als "kulturfern" bezeichnet -, die Aufforderung, bunte Schilder mit leeren Parolen hochzuhalten - wir beteiligen uns nicht, da der Aufruf offensichtlich auf die bevorstehenden Wahlen in Sachsen abzielt und wir uns als freie Büchermenschen nicht politisch instrumentalisieren lassen möchten, so sehr wir uns auch mit unserem Programm für gesellschaftliche Teilhabe und Verständigung einsetzen. Dann gibt es unverständliches Geschrei beim Beginn der Rede des Bundeskanzlers, ein gestelztes Gespräch zwischen den Regierungschefs aus Flandern, den Niederlanden und Sachsen, eine zu lange gehaltene Vorlesung über Philosophie in englischer Sprache, die Dankesrede des Buchpreisträgers für Europäische Verständigung, deren spannendster Teil zu Beginn leider nicht im Programmheft abgedruckt wurde und daher schnell in Vergessenheit zu geraten droht: Geschrei führt nicht weiter, Frieden entsteht nur durch Zusammenarbeit. Das Gewandhausorchester tritt zwischendurch auf und erhält den größten Applaus. Am Ende haben wir uns das von den Niederländern gesponserte Büffet reichlich verdient.

Fotos: Leipziger Messe/Jens Schlüter; Peter Amsler

Donnerstag, 21. März 2024

Die Messe ist ein Publikumsmagnet. Im Fokus stehen Bücher, alles rund ums Buch und das Lesen. Hunderte Veranstaltungen machen die Messe zu einem großen Event, bei dem sich Stars und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den Neugierigen präsentieren. Einiges bleibt uns unverständlich, wie die langen Schlangen vor Lyx und anderen Imprints mit ihren aufwendigen Umschlägen und eher oberflächlichen Romance-Inhalten. Aber Farbschnitt! Auch die Cosplayer sind uns fremd. Sie schlendern durch die Gänge, möchten jedoch lieber nicht fotografiert werden. Für unsere Bücher interessieren sie sich ohnehin nicht. Mit Humor nehmen wir es hin und tauchen in eine uns unbekannte Welt ein. Wolf Biermann singt am Stand nebenan, siebenundachtzigjährig, da hören wir gern zu. Gegenüber sind die Kolleginnen und Kollegen des Bundes der Freien Waldorfschulen und der Vereinigung der Waldorfkindergärten, deren Schicksal wir in den nächsten vier Tagen teilen werden, den gesamten Tag in einer lauten und künstlich ausgeleuchteten Messehalle zu stehen. Ein guter Verkäufer sitzt ja nicht... Was erwartet uns, wenn ein Mensch auf uns zukommt? Welche Lebensfragen haben unsere Standgäste? Manche Gespräche dauern lange und werden sehr persönlich. Es geht um Lebenskrisen (»Niemand liebt mein Leben so wie ich«, Angela Buddecke, »Raumforderung«, Annette Merklin), Sterben und Tod (»Humbert Bär schläft so gern«, Alexander Mackenzie, »Und wenn sie doch gestorben sind…?«, Alexandra Eyrich) oder um Identität und Herkunft (»Tonka. Mädchen der Sioux«, Uwe Münkemüller). Am Stand sind wir zu dritt: Angela, Susan und ich. Wir treffen alte Freunde und lernen zwei vielversprechende neue Autorinnen kennen, mit denen wir zukünftig zusammenarbeiten möchten.

Fotos: Heide Otto; Peter Amsler

Freitag, 22. März 2024

Heute haben wir zwei besondere Gäste: Karoline Hugler und Maryna Hromenko. Karoline ist die Autorin unseres ersten "All-Agers" mit dem Titel "Meer von Sonnenblumen", ein Roman für alle ab 10 Jahren. Dieses Buch ist unser Antikriegsbuch, da es auf kindgerechte Weise um die Ablehnung des Tötens und Getötetwerdens geht. Marius, der Deserteur, trifft auf den zehnjährigen Max, der aus einem Waisenhaus weggelaufen ist. Gemeinsam bilden sie im Zirkus eine Gemeinschaft, erst gezwungenermaßen, dann aus Freundschaft. Maryna Hromenko hat das Cover illustriert. Sie selbst ist vom Krieg in ihrer Heimat betroffen und lebt nun in Berlin. Unverhofft kommt der Drucker aus Ungarn dazu. Die Messe hat uns den letzten Leseslot des Tages um 17.30 Uhr im Forum Lese-Treff zugeteilt. Die Messe schließt um 18.00 Uhr, daher ist es verständlich, dass zu dieser Zeit nur noch wenige Zuhörer im Publikum sitzen. Dennoch hört die müde Hostess aufmerksam zu und auch die anderen im Publikum sind interessiert. Zwei von ihnen kommen am nächsten Tag zu unserem Stand, um mehr zu erfahren. Auch für andere ist das Buch ein Blickfang. In unseren Regalen bekommt es einen prominenten Platz auf Augenhöhe. Leider gibt es nur noch wenige Zeitungen, die ausgewogen über den Krieg im Osten berichten oder sich für den Frieden einsetzen. Wir bieten ihnen Besprechungsexemplare an und tauschen Visitenkarten aus.

Fotos: Der Erzählverlag/Peter Amsler

Samstag, 23. März 2024

Wieder ein ereignisreicher Tag. Am Nachmittag besucht uns die Autorin Nadin Isu an unserem Stand. Als Gesangspädagogin angekündigt, erscheint sie wie ein Wirbelwind. Ihr Buch "Augen zu und singen!" wird von uns als Ermutigungs- und Übungsbuch beworben. QR-Codes führen die Leser zu ihrer Youtube-Seite mit Stimmbildungs- und Gesangstrainings, was einen echten Mehrwert des handlichen Buches darstellt. Das Büchlein ist besonders für Chorsänger geeignet, die ihre Gesangsfähigkeiten selbst nicht so hoch einschätzen und noch einen Anstoß benötigen. In kürzester Zeit hat sie aus dem zufällig vorbeigehenden Messepublikum eine Gruppe gebildet, die sich im Kreis versammelt und gemeinsam stimmlich aufwärmt. Dann beginnt das Singen. Ein Kanon erklingt, der schnell die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wir haben viel Spaß! Noch ein paar Fotos und dann geht es weiter. Die Kinder warten bereits. 

Am Abend sind wir gemeinsam mit dem Verlag Urachhaus zu Gast im Mendelssohn-Haus im Rahmen von Leipzig liest. Diese Veranstaltung wurde seit Langem vorbereitet und wir sind ein wenig nervös. Der Psychoonkologe Josef Ulrich ("Selbstheilungskräfte", Urachhaus) und Angela Buddecke ("Niemand liebt mein Leben so wie ich", Der Erzählverlag) treten gemeinsam auf. Die Flötistin Diane Möhrke begleitet Angela bei der Musikdarbietung am Flügel. So ergibt sich ein Dreiklang: Josef, der spricht, Angela, die liest, und Angela und Diana, die beide musizieren: Bach, Mendelssohn-Bartholdy, Satie. Ein ernstes Thema, doch es entsteht ein kurzweiliges Programm, das berührt, inspiriert und ermutigt, sich auch in schweren Zeiten in der Könnerschaft des eigenen Lebens zu sehen und Verantwortung nicht an Dritte abzugeben. Wie viele Menschen sich wohl von diesem Programm angezogen fühlen? Am Ende sind wir 90 Personen im Gartenhaus! Aus Berlin sind sie angereist, aus Quedlinburg und auch aus anderen Städten. Michael Stehle, Verlagsleiter von Urachhaus, und ich führen durch den Abend. Zu Beginn verhaspele ich mich vor Aufregung, dafür gelingt der Übergang zur Signierstunde und einem Gläschen (alkoholfreien) Sekt umso besser. Dies ist einer jener Abende, wofür der Verlag im Jahr 2018 gegründet worden ist.

Fotos: Der Erzählverlag/Peter Amsler, Birgit Rubach

Sonntag, 24. März 2024

Der letzte Messetag ist angebrochen. Wir sind etwas verkatert, aber freuen uns über den gestrigen Abend, der noch nachklingt. Auch beim Messepublikum scheinen Ermüdungserscheinungen einzutreten - oder ist es der Sonntag? Viele schlendern nur, möchten nicht sonderlich sprechen. Zeit für Märchen! Wir sind dankbar, dass Anna Speer und Susanne Olbing aus Berlin angereist sind und sich auf dieses Wagnis eingelassen haben: ein Märchen mit Musik in einer lauten Messehalle. Die Musik verstärken wir, Anna muss kräftig sprechen. Eine kunstfertige Stilisierung der Sprache ist da kaum möglich. Dennoch haben beide Lust darauf und sind fröhlich gespannt. Auf der Fläche des Bundes der Freien Waldorfschulen erklingt am Nachmittag "Das singende, springende Löweneckerchen", eine Märchenerzählung aus der Sammlung der Brüder Grimm. Die Aussage des Märchens? Wenn Mut und die Kraft des Herzens nicht mit Gottesfurcht gepaart werden, werden sie zur Tollkühnheit und Übermut, zu kaltem Hochmut. Tatkraft und Glauben sollten nicht getrennt werden. – Ein Märchen für unsere Zeit! Die Menschen bleiben stehen und hören zu, manche machen auch gerne Pause auf einem der Sitzhocker des Bundes. So haben alle etwas davon: Am Ende des letzten Messetages wird noch einmal der Stand des Bundes belebt, die Menschen erfreuen sich an der Erzählkunst und wir uns daran, dass unsere Künstlerinnen so gerne nach Leipzig gekommen sind. Offiziell endet die Messe um 18.00 Uhr. Da wir gut verkauft haben, nehmen wir viel weniger Kisten wieder mit nach Berlin als wir hingebracht haben. So ist der Abbau schnell erledigt und um kurz nach sechs sitzen wir bereits im Auto auf dem Weg nach Berlin. Am morgigen Montag ist Pausentag.