Jahresrückblicke zu schreiben, ist eine leidige Aufgabe. Niemand kann ein Jahr in seiner Gesamtheit überblicken, geschweige denn alle Begebenheiten nacherzählen, sodass sich Unbeteiligte im Nachgang ein möglichst getreues Bild des zu Ende gehenden Jahres verschaffen können. Eine Auswahl tut not, die zu Halbwahrheiten, gar Lügen, falschen Überhöhungen und Manipulationen geradezu einlädt. So liefen die Geschäfte auf dem Buchmarkt wie geschmiert, natürlich war jede Messe ein voller Erfolg und - wie sollte es auch anders sein - machte der Verlag einen großen Schritt nach vorne. Aber halt! Ich vergaß: Wir verkaufen ja keinen Jogurt, also Nippes, Tassen und Geschenkbändchen, sondern Bücher und Lehrmittel, machen Veranstaltungen und Seminare, um das freie künstlerische Erzählen zu befördern, auch die biografische Erzählkultur. Also dann lief das ausgehende Jahr nicht so gut? Lesen Sie selbst.
Die erste Neuerscheinung in 2023: neuerzählte Sufi-Geschichten klassischer Autoren wie Rumi, Attar und Saadi
aus der Feder des schottischen Erzählers, Autors, Übersetzers und Sufi-Gelehrten Neil Douglas-Klotz.
Er lässt auch den türkischen Eulenspiegel Mullah Nasreddin zu Wort kommen und erzählt Geschichten rund um den koranischen Jesus sowie - Achtung, Spannungsbogen - Iblis, den Todesengel, der nichts
anderes ist als die Manifestation eigener Schatten. Jonas im Bauch des großen Fisches und der Bucklige von Ch’ang-an aus Tausendundeiner Nacht
treten auch auf. Mayram Mafi, Herausgeberin der Geschichten Rumis, steuert das Vorwort bei. Der Band erscheint zum 26. Januar 2023 als Taschenbuchausgabe mit 208 Seiten.
2022 war das zweite "richtige" Geschäftsjahr einer unabhängigen Unternehmung, die sich "Der Erzählverlag" nennt und sich vor allem als Plattform zur Förderung von Erzählkunst und Erzählkultur versteht. Seit 2021 arbeitet der Verlag mit einer professionellen Auslieferung zusammen und hat Verträge mit allen wesentlichen Zwischenhändlern, ist also vollständig in das Handelsnetz des deutschsprachigen Buchmarktes eingebunden. Der Verlag nimmt an Messen und Märkten teil, beteiligt sich an Wettbewerben und ist in verschiedenen Netzwerken unabhängiger Verlage, der Erzählkunst-Szene und Waldorfpädagogik eingebunden, zwei wesentliche Zielgruppen für Lehrmittel und Fach- und Sachbücher. Im Rahmen der Möglichkeiten hält der Verlag seine Neuerscheinungen und die älteren Titel der Backlist sichtbar durch Rezensionen und Anzeigen.
Und doch war 2022 einiges anders als im Jahr zuvor.
Die Gesundheitskrise schlug sich auf die Entwicklung des Verlags nieder: Zu Beginn des Jahres konnte über viele Wochen hinweg nur das Nötigste im Büro erledigt werden; dadurch brachen Routinen weg und der Schwung der Verlagsneugründung erlahmte; erste Rückgaben von eigentlich verkauften Büchern aus dem Vorjahr, den so genannten Remittenden, mussten bei fallenden Erlösen verbucht werden; die für den Verlag wichtige Publikumsmesse in Leipzig fiel zum dritten Mal in Folge aus; unser Publikum musste sich erst wieder daran gewöhnen, zu Veranstaltungen zu kommen; wir konnten nur eine elektronische Vorschau unserer Neuerscheinungen und unseres Verlagsprogramms anbieten ... Unser Verleger hat sich über die Lage der unabhängigen Verlage hier ausführlich geäußert.
Auf der Habenseite steht dem gegenüber: Dank der ruhigeren Veranstaltungslage erhielten wir die Möglichkeit, unsere bestehenden Veranstaltungsreihen neu zu designen (Pädagogische Erzählkunst in Schulen zusammen mit Wortreich Anna Speer) und neue Formate aufzusetzen (das Eigenformat der Kugellagergespräche auf dem Tempelhofer Feld in Berlin sowie die kommenden autobiografischen Erzählsalons mit Dr. Sabine Wettig); die Frankfurter Buchmesse fand statt und wir konnten mehr denn je die Erfahrung machen, dass Kunden und Händler gezielt unseren Stand ansteuerten; mit dem kleinen Buch der Sufi-Geschichten des schottischen Erzählers und Sufi-Gelehrten Neil Douglas-Klotz, das Ende Januar 2023 erscheinen wird, konnten wir erfolgreich unsere erste Auslandslizenz abwickeln; mit dem Verband der Erzählerinnen und Erzähler (VEE) haben wir zwei Projekte erfolgreich umgesetzt: Kristin Wardetzkys Aufsatzsammlung über Mythen, Märchen und das künstlerische Erzählen sowie die deutsche Fassung der Toolbox, einem wichtigen Baustein zur Professionalisierung des künstlerischen Erzählens; mit Matthias Halbrock (Die Welt neben uns. Märchen von der Begegnung mit zauberhaften Wesen) stieß ein weiterer Erzähler zu uns, der sogleich im November bei den 33. Berliner Märchentagen frei und mündlich erzählte; mit Ilka Sunds und Katharina Menkes Kinderbilderbuch Die Stadttaube konnten wir in 2022 ein Buch mit "gutem Standard" vorlegen, wie die Jury zum Wettbewerb "Die schönsten deutschen Bücher" lobend bemerkte; und gegen Ende des Jahres wurden wir auch wieder von unserem Publikum bedacht: Der Launch des autobiografischen Berichts "Raumforderung" von Annette Merklin in der Yoga-Schule Zehlendorf war sehr gut besucht, Lesung, Rezitationen von Hilde Domins Gedichten und Live-Musik trugen zu einer Atmosphäre bei, die Standards setzten.
Und wie geht es weiter?
Die Leipziger Buchmesse im April 2023 wird für die kommenden Neuerscheinungen Zielmarke sein, wie auch die Frankfurter Messe im Herbst. Unter anderem veröffentlicht die Schauspielerin und Kabarettistin Angela Buddecke mit ihrem autobiografischen Roman ihr fulminantes Debut: Niemand liebt mein Leben mehr als ich; die Sagen-Touren mit der Erzählerin Madana Kati Pfau durch das Nikolaiviertel gehen nach 2022 in das zweite Jahr, zu Beginn des Jahres begleitet von einem Filmteam des Radio Berlin Brandenburg (RBB); auch die Kugellagergespräche zur Förderung der Erzählkultur finden ihre Fortsetzung; erstmals werden wir - analog der Lehrkollegien an Schulen - Seminarangebote für weitere gesellschaftliche Gruppen und Vereine anbieten, die etwas autobiografisch frei und mündlich "zu sagen haben"; als Lehrmittel erscheinen gleich mehrere Klassenspiele in der Bearbeitung des Sprachgestalters Christian Maurer; die Reihe Biographie und der Westentaschenerzähler erhalten ebenfalls weitere Ausgaben ... Um Projekte wie diese auf sicherem Grund realisieren zu können, erfolgt - endlich - in 2023 die Umfirmierung des Erzählverlags zu einer Unternehmensgesellschaft mit beschränkter Haftung.
Ob das dritte Geschäftsjahr des Verlags besser als die bisherigen zwei werden wird, ist nicht ausgemacht. An Engagement, Ideen und Enthusiasmus wird es jedenfalls nicht mangeln.
Ergänzung vom 3.01.2023
Inzwischen hat auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Einschätzung für das Handelsjahr 2022 veröffentlicht. Darüber berichten das Börsenblatt sowie verschiedene andere Medien. Die Frankfurter Allgemeinen Zeitung titelt: "Buchmarkt unter Druck. Papiermangel setzt der Buchbranche zu". Für die Verlage bedeute der Jahreswechsel vor allem neue Herausforderungen, heißt es. "Papiermangel, Energiekosten, Kaufzurückhaltung – das alles drückt die Umsätze nach unten. ... Über alle Vertriebswege hinweg sank der Absatz in den ersten elf Monaten im Vergleich zum Vor-Pandemiejahr 2019 um 4,6 Prozent."