Falsche Signale

"Schweren Herzens müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Verbund aus Leipziger Buchmesse, Manga-Comic-Con, Leipzig liest und Antiquariatsmesse leider nicht stattfindet", schrieb heute, am Mittwoch, 9. Februar 2022, die Leipziger Buchmesse in einer Pressemitteilung. Die traditionell als Publikumsmesse mit Fokus auf das Lese- und Begegnungserlebnis ("Leipzig liest") ausgerichtete Frühjahrsmesse sollte vom 17. bis 20. März 2022 stattfinden. Der Erzählverlag war in Halle 5 mit einem Stand angemeldet. Zusätzlich waren im Rahmen von "Leipzig liest" verschiedene Buchpräsentationen und Lesungen mit Autorinnen und Autoren des Verlags vorbereitet. Ihre Titel waren im Laufe des letzten Jahres und im ersten Quartal erschienen, konnten jedoch pandemiebedingt noch keinem größeren Publikum vorgestellt werden.

Die abermalige, mittlerweile dritte Absage in Folge wurde in diesem Jahr indes weniger mit der Gesundheitskrise begründet, als vielmehr mit ihren Folgen. "Zahlreiche Absagen von Aussteller:innen innerhalb der vergangenen Tage führten dazu, dass die erwartete Qualität und inhaltliche Breite einer solchen großen Publikumsmesse nicht mehr gewährleistet ist", hieß es. In der Tat häuften sich in den letzten Tagen Meldungen der Konzernverlage wie Penguin Random House und Oetinger, die ihre Teilnahme zurückzogen. Das Börsenblatt sah bereits zwei Tage vor der Entscheidung in die Glaskugel und schrieb verständnisvoll die Absage herbei. Konkret: Wenn die Großen absagen, reicht der Umsatz durch die Kleinen nicht aus, um die Messe wirtschaftlich zu betreiben.

 

Während also die Leipziger Buchmesse im März vor dem Hintergrund steigender Infektionszahlen abgesagt wurde, beginnt an diesem Donnerstag die Berlinale als Publikumsfestival. Verkehrte Welt!

 

Absage und Begründung setzen aus verschiedenen Gründen das falsche Signal:

  • Erstens ist die derzeitige Corona-Lage eher ein Grund zur Freude als zur Besorgnis. Trotz steigender Infektionszahlen hat die Politik damit begonnen, das öffentliche Leben schrittweise zu normalisieren - mit gutem Grund, denn sehr viele Menschen haben mittlerweile die Unterschiede zwischen einem positiven PCR-Test, einer Infektion, einer symptomatischen Erkrankung und einer Hospitalisierung verstanden. Sie können die vom Robert-Koch- und dem Paul-Ehrlich-Institut bereitgestellten Daten selbständig erfassen und die Interessen aus Politik und Wirtschaft wirklichkeitsgenauer einordnen. Auch blicken sie ins Ausland und beobachten die dortige Situation. Ängste schwinden; die Freude an und der Mut zu Begegnungen steigen. "Worauf warten wir?", fragte daher der Chefarzt der Klinik für Lungen- & Bronchialheilkunde in Moers, Thomas Vosshaar, in der Zeitung Welt. Auch die Messe meint: "Der Wunsch nach einem persönlichen Treffen auf der Leipziger Buchmesse war riesengroß." In einer Mitteilung der Kurt-Wolff-Stiftung vom Vortag heißt es folgerichtig: "Die Leipziger Buchmesse ist von zentraler Bedeutung für die vielfältige deutsche Buch- und Verlagswelt. Als Publikumsmesse sorgt sie seit Jahren für eine breite Sichtbarkeit besonders der unabhängigen Verlagsprogramme, für einen lebendigen Austausch von Verlegerinnen und Verlegern, Autorinnen und Autoren mit Leserinnen und Lesern. Sie ist daher unverzichtbar für unsere Branche."
  • Zweitens ist die abermalige Absage für viele kleine, unabhängige Verlage nicht mehr nur eine Sache des wirtschaftlichen Verlustes, sondern nach über zwei Jahren Pandemie auch eine Frage der Existenz. Der schleichende Verlust der vielen mit dem vermeintlichen Schutz der Mitarbeitenden einiger aufzuwiegen, die es sich leisten können, erscheint vor dem Hintergrund der tatsächlichen Lage und des vorgelegten Hygienekonzepts der Messe als unangemessen. Im Übrigen rühmte sich die Branche bislang ihrer Kreativität. Nun heißt es:  "Aufgrund der kurzen Vorlaufzeit wird in diesem Jahr kein digitales Alternativprogramm umgesetzt." 
  • Drittens muss sich die Messe den Vorwurf gefallen lassen, dass der Verweis auf die "volatile pandemische Lage" vorgeschoben ist und Interessen nicht sichtbar gemacht werden. Wenn die Beteiligten nach den Absagen einiger größerer Konzernverlage (wer und wie viele eigentlich genau?) zugleich "die erwartete Qualität und inhaltliche Breite" gefährdet sieht, ist das gleichbedeutend mit einem Misstrauensvotum gegen viele kleine und unabhängige Verlage mit ihren anspruchsvollen Programmen. Es zeigt sich, dass die Großen der Branche in den letzten Jahren gelernt haben, auch ohne diese publikumswirksame Messe gut wirtschaften zu können. Sie ebnen sich ihre Wege durch die Transformation des Buchmarktes. Reicht dann nicht die eine Business-Messe, die in Frankfurt? Ein "sentimentales 'Messefahne-Hochhalten'" in Leipzig wolle man sich zumindest nicht mehr leisten, begründet Oetinger-Geschäftsführer Thilo Schmid die Absage seines Verlags. Die Oetinger-Gruppe ist der drittgrößte deutsche Kinder- und Jugendbuchverlag und hat im ersten Pandemie-Jahr laut Die Zeit ein Umsatzplus von elf Prozent erzielt. "Wir sind gerade in einer richtigen Blütezeit", zitierte die Zeitung die Verlegerin Julia Bielenberg 2021. Die Vorsteherin des Börsenvereins Karin Schmidt-Friderichs schreibt heute in einem Offenen Brief an Messe-Geschäftsführer Oliver Zille merkwürdig defensiv: "Lassen Sie uns denjenigen, die ihre Teilnahme abgesagt haben, mit Respekt und Anerkennung begegnen – sie haben aus Verantwortungsgefühl gehandelt und keineswegs aus Messemüdigkeit, im Gegenteil." Messemüdigkeit, aber genau das ist es ja. Frankfurt ist - nicht zuletzt über die Beteiligung des Börsenvereins - am Ende für das Geschäft wohl wichtiger und Leipzig für die Großen mit den für sie "hohe[n] 5 bis 6stellige[n] Beträge[n]", so Oetinger-Geschäftsführer Thilo Schmid, lediglich eine kostenintensive Pflichtveranstaltung. Man möchte dem Wunsch der Vorsteherin nach Verständnis nicht so recht nachkommen, wenn die Interessen des Gros der Mitgliedsverlage im Börsenverein des Deutschen Buchhandels zwar gewogen, jedoch für zu leicht befunden werden, wieder einmal. 

Wenn dieser traurige Tag für eines gut sein soll, dann für die Erkenntnis, dass die kleinen, auf Qualität bedachten Verlage mehr zusammenarbeiten müssen. In ihren Milieus sind sie schon jetzt die Kreativen, die Vordenker und Trendfinder. Schließen wir also Partnerschaften, wie bereits bei Schöne Bücher und anderswo der Fall, und erweitern wir die Sichtbarkeit unserer Titel über die eigenen Grenzen hinweg. Uns wird schon noch mehr einfallen, als nur "Hybridveranstaltungen" (Thilo Schmid) zu organisieren.

 

Die ausgefallenen Buchpräsentationen im Rahmen von Leipzig liest werden wir zusammen mit den Autorinnen und Autoren andernorts durchführen und dabei neue Formate ausprobieren. Schon weit vor der heutigen Absage haben wir damit begonnen, mit anderen Verlagen, die im gleichen Teich fischen, für die gemeinsame Kundenansprache Kontakt aufzunehmen. Wir wissen: Joghurt verkaufen wir jedenfalls nicht. 

 

Peter Amsler

Fotos: Bernhard Pixler | pixelio.de; Peter Amsler |Der Erzählverlag

Aktualisierung 14.02.2022

Die Absage der Leipziger Buchmesse hat ein breites Medienecho ausgelöst. Autorinnen und Autoren schrieben einen Offenen Brief und auch wir merkten es an unseren Klickzahlen und der Reaktion auf den obigen Blog-Beitrag: Der Rückzug der großen Verlage war ein schwerer Fehler, der für Aufsehen und Empörung sorgte. Nun haben sich sogar die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, und der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer, zu Wort gemeldet (14.02.2022) - ein eher ungewöhnlicher Vorgang: "Die Absage der Leipziger Buchmesse, aber auch die Umstände dieser Absage werfen viele Fragen auf." Sie laden zu einem "Zukunftsgespräch" ein. Wörtlich heißt es:

 

„Die deutsche Buchlandschaft, von Buchläden über Verlage bis hin zu Lesefestivals liegt uns beiden sehr am Herzen. Wichtige Impulse der deutschen Gegenwartsliteratur, aber auch der internationalen Verbindungen unseres Landes knüpfen sich an die Buchmesse in Leipzig. Wir haben deren Absage für dieses Jahr durch die Messeverantwortlichen zu Kenntnis genommen. Dabei darf es mit Blick auf das nächste Jahr nicht bleiben. Denn wir wollen, dass unsere Kulturlandschaft und der Buchmarkt ihre Brückenfunktion zu den Ländern Mittel- und Osteuropas auch in Zukunft wahrnehmen. Deswegen laden wir den Börsenverein des deutschen Buchhandels, die Leipziger Messeverantwortlichen und VertreterInnen großer deutscher Verlage zu einem Zukunftsgespräch ein.“

 

In einer Stellungnahme begrüßt die Vorsteherin des Börsenvereins Karin Schmidt-Friderichs die Initiative:

 

"Die Einladung zum Gespräch ist ein positives Signal, und wir nehmen sie gerne an. Wir begrüßen es, dass die Politik ein großes Interesse an der Leipziger Buchmesse und am Buchmarkt zeigt. So ein Gespräch ermöglicht es, im direkten Kontakt mit Branchenvertreter*innen Hintergründe zu erläutern und Zukunftsszenarien zu diskutieren. Für uns als Börsenverein steht die Notwendigkeit und damit Zukunft der Leipziger Buchmesse als zentrale Plattform für Bücher im Frühjahr außer Frage. Die Bedeutung der Messe für das öffentliche Gespräch über Bücher, die Aufmerksamkeit für Autor*innen und Verlage sowie für den Branchenaustausch werden wir in dem Gespräch herausstellen."

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