Buchpräsentation Fluchtpunkt Fantasie

Während der Jahrestagung des Verbands der Erzählerinnen und Erzähler (VEE) in Wandlitz vom 25. bis 28. August stellten Janine Schweiger vom Vorstand des Verbands und Peter Amsler vom Erzählverlag die Aufsatzsammlung "Fluchtpunkt Fantasie" aus der Feder von Prof. Kristin Wardetzky vor. Nicht nur mit dem Aufbau des Zertifikatskurses „Künstlerisches Erzählen – Storytelling in Art and Education“ an der Universität der Künste in Berlin wurde die langjährige Professorin der Theaterpädagogik  zur Doyenne des künstlerischen Erzählens im deutschsprachigen Raum. So kam es in Wandlitz ganz nebenbei auch zu einer Würdigung ihrer Lebensleistung.

Signierstunde mit Kristin Wardetzky (3. v.r.) nach der Buchpräsentation.

Liebe Frau Wardetzky,

liebe Erzählerinnen und Erzähler,

 

wir können einander verstehen, deuten kann jeder nur sich selbst, schreibt Hermann Hesse in seiner Vorrede zu seinem Roman Demian. Da wir uns, liebe Frau Wardetzky, erst kennengelernt haben, fällt es mir naturgemäß schwer, etwas zu Ihrer Person zu sagen. Wenn ich mir aber Ihre Aufsatzsammlung „Fluchtpunkt Fantasie“, um die es jetzt gehen soll, vergegenwärtige, dann wird anhand der angeschnittenen Themenbereiche sehr vieles auch über ihre Person deutlich.

Ich möchte das einmal im Folgenden kurz räumlich darstellen, nämlich in eine Breite, Tiefe und Höhe bringen.

Zunächst ist da – im Buch „Fluchtpunkt Fantasie“ – die Breite ihres Forschungs- und Lehrgebiets erkennbar, Ihres über Jahrzehnte andauernden Engagements: die antiken Mythen, die Märchenwelt, vor allem die Hausmärchen der Brüder Grimm,  und das künstlerische Erzählen. Diese drei Themenbereiche bestimmen den Aufbau des Buches.

Bei den fünf ersten Aufsätzen über antike Mythen fällt der Blick sofort auf die weiblichen Protagonisten, vor allem auf Medea, Alkestis, Penepole. Das ist ein Blick auf das durch sie erlittene Unrecht und ihre Widerstandskraft. Die Darstellung selbst ist vielschichtig, vorsichtig, überlegt, kommt am Ende aber – selbst wenn die antiken Mythen kein happy end vorhalten – auf den kämpferischen Punkt: Es geht um weibliche Selbstbehauptung. Im Aufsatz über Penepole schreiben Sie: „Was uns Homer … erzählt, könnte man als das Hohe Lied auf die Widerstandskraft antiker Frauen lesen, aber auch als bittere Einsicht, dass das weibliche Verlangen nach Gemeinsamkeit am männlichen Selbstbild scheitert.“ 

Im zweiten Themenbereich – dem Märchenteil – fällt der Blick auf Ihr Eintreten für kindliche Autonomie, auf Ihr Recht auf Fantasie. Dies wird in der Darstellung Ihrer Rezeptionsforschung bei Kindern bzw. den Märchen als projektive Möglichkeit zur Wunscherfüllung aus den achtziger Jahren deutlich. Sie schreiben dort: „Das Kind erkennt im Märchen sich selbst wieder, weil es sich dort mit der unverwechselbaren Einmaligkeit seines Ich selbst eingebracht hat und nicht, weil ihm darin ein einmaliges Schicksal eines individuell-einmaligen Helden begegnet.“ - Sie sind nah „am Kind“ und seiner Fähigkeit zur Fantasie, verlieren sich aber nicht romantisch, sondern mahnen reale Handlungsbefähigungen an, sofern Märchen heilend wirken sollen. 

Dieser Realismus setzt sich fort im dritten Themenbereich – bei dem es ums Künstlerische geht –, wenn Sie über die Möglichkeiten einer narrativen Sprachvermittlung schreiben. Hier spricht die Praktikerin und Projektförderin.

Neben dieser Breite des Engagements erkenne ich die Tiefe Ihrer Interessen: Wenn es um geschichtliche Darstellungen geht, den Märchenstreit im Nachkriegsdeutschland etwa oder die Bühnenrezeption der Märchen in Berlin. Das machen sie aber nicht als Historikerin. Im Aufsatz „Erzählen als Traditionsbezug“ schlagen Sie eine Brücke zwischen den ältesten Zeugnissen der europäischen Kultur, so der Ilias des Homer, und den Erfahrungen heutiger Erzählerinnen und Erzähler. So sprechen Sie sich für einen lustvollen, kreativen Umgang mit den tradierten Erzählstoffen aus. Sie empfehlen die Arbeit an Erzählkernen und ihre Freiheit, „mit der die Fantasie den Kern umspielt“, wie sie schreiben. „In Erzählprojekten mit Kindern und Jugendlichen“, schreiben Sie weiter, „zeigte sich, wie mittels dieser Form ein überraschend unverkrampfter, lustvoller Zugang zum Erzählen gefunden wurde.“ Tradition ist für Sie ein Bergwerk, reich an Edelsteinen – die wir alle zu schöpfen haben, um sie nutzbar für die heutigen Lebensumstände und die Arbeit daran zu machen.

Das führt mich zur dritten Beobachtung: neben der Breite und der Tiefe blicke ich da auf die Höhen: Ich durfte Sie im Buch als „Fan“ kennenlernen. Der letzte Aufsatz Ihrer Sammlung „Fluchtpunkt Fantasie“ handelt von Bernhard Minetti und Marco Baliani. Wie Sie Minettis Erzählabend im Schiller-Theater beschreiben, so dass wir alle es nochmals nacherleben können, ist einfach nur großartig – und dafür danke ich Ihnen. 

Wie ich mich überhaupt bei Ihnen für die Zusammenarbeit bedanken möchte, die aus den vielen Texten, die zuvor verstreut in Zeitschriften veröffentlich waren, dieses schöne Buch werden ließ. Auch möchte ich mich beim Verband der Erzählerinnen und Erzähler bedanken, der den Anstoß dafür gab, vor allem bei Janine Schweiger und Jana Raile. 

Diese Zusammenarbeit schätze ich sehr, ... denn das ist klar: Ohne persönliches Engagement kann so ein Unterfangen leider noch nicht auf dem Markt bestehen. Denkbar ist daher, dass sich aus dem bisherigen Einzelunternehmen zukünftig eine Genossenschaft entwickelt oder eine gemeinnützige GmbH oder dergleichen. Das Buch hat ja keinen Selbstzweck, es ist Mittel zum Zweck. In unserem Fall ist es die Förderung einer Kunst, die so schön, so facettenreich, so wichtig ist für die Begegnung von Menschen und die weitere friedliche Entwicklung der Menschheit, wie es kongenial in dem Buch von Kristin Wardetzky zum Ausdruck kommt. Sie schreibt darin: „Im Erzählen von Geschichten lösen wir uns von der Realität und dringen tiefer in sie ein. Wir verdichten Erfahrungen und erweitern sie. Wir sind Ich und Du in einem. Wir sind Odysseus und Medea und Rapunzel und hören ihnen zu. Geschichten-Erzählen: universell, transkulturell, zeitlos.“

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Peter Amsler, Der Erzählverlag

Wandlitz, 25.08.2022