Vom 20. bis 24. Oktober 2021 fand die 73. internationale Frankfurter Buchmesse statt. Der Erzählverlag beteiligte sich bei der diesjährigen Herbstmesse am Gemeinschaftsstand der unabhängigen Verlage, organisiert vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, während der Verlag zur kommenden Frühjahrsmesse in Leipzig an einem eigenen Stand sein Programm präsentiert. Ein Bericht.
Fotos: Peter Amsler
Wenn der Erzählverlag in diesen kühler werdenden Wochen eine Buchpräsentation plant, dann preisen wir Konflikte ein: Entweder sagen einige unserer Gäste ab, weil sie wegen der anhaltenden Gesundheitskrise ein mulmiges Gefühl ob der vielen Menschen haben, die da beieinandersitzen, oder sie kommen nicht, weil sie wegen der ebenfalls anhaltenden Vertrauenskrise ein mulmiges Gefühl ob der für sie unnötigen Gängeleien haben, die derzeit allen öffentlichen Veranstaltungen auferlegt werden. Jeder hat einen Grund, sich besser nicht zu tummeln, und wir sitzen zwischen den Stühlen, nehmen dies oder jenes Bedürfnis wahr und versuchen darauf so oder so zu reagieren, was nicht immer angemessen gelingt. So kommt es, dass viele Veranstaltungen weniger erfolgreich sind als in den vergangenen Jahren, selbst wenn sie "erlaubt" sein sollten.
Eine Lösung ist der Weg raus aus der großen Öffentlichkeit und rein ins Kleine, ins Private, zu den Wohnzimmerlesungen und in die Gärten wie zuletzt während der Buchmesse in Frankfurt, die vom 20. bis zum 24. Oktober stattfand. Nicht das Messegelände in der Stadt war Veranstaltungsort für unsere Autorenlesung, sondern ein privater Ort - inklusive einer virtuellen Öffentlichkeit, sodass wir diesmal allen Wünschen gerecht werden konnten.
Und oft geschehen auch kleine Wunder, wenn Menschen zusammenkommen, um sich gemeinsam einer Frage anzunähern. Am Abend des ersten Besuchertages der Messe war es die Frage: Warum gibt es Menschen mit Behinderung? Dann ist das Krisengerede weit weg und Wesentliches kommt ins Blickfeld. Peter J. Wöll ist Vater einer mehrfach behinderten Tochter und hatte viele Jahre über diese Frage in Wissenschaft und Ethik vergeblich geforscht, ehe er in der Religion Antworten fand. Herausgekommen ist ein berührendes Buch mit Briefen an seine Tochter Laura und nachvollziehbaren Exkursen aus Wissenschaft und Religion: "Du bist ein verhüllter Engel" (Der Erzählverlag 2021). Die Schriftstellerin Vera Seidl hat auf unserem Blog ausführlich über das 330 Seiten starke Buch geschrieben. Wölls Leitgedanken sind den Schriften der Bahá'í-Religion entnommen, doch auch andere religiöse Traditionen spielen hinein, denn am Ende geht es ihm nicht um etwas fest Bestimmtes, sondern um eine offene, von Liebe geprägte Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpften - worin auch Laura ihre Rolle als "verhüllter Engel" einnimmt.
Gern hätte man auch auf dem Messegelände die Konflikte der Zeit derart "wundervoll" aufgelöst gesehen. Stattdessen kam es zu dem - fast schon unvermeidlichen - Boykottaufruf einer Autorin, die sich durch die Anwesenheit bestimmter Verlage (Plural) bedroht fühlte, so die Begründung ihrer Nichtanwesenheit. Ein kluger Zug, um ins mediale Gespräch zu kommen - und es hat ja auch funktioniert. Nur war in Halle 3.1. keinerlei Bedrohung zu verspüren; die vier Jungs am kleinen Stand des betreffenden Verlags (Singular) mussten den Aufruf jedenfalls für ein Missverständnis gehalten haben. Medial zugute gekommen ist er ihnen aber auch, eine klassische Win-Win-Situation also.
Messe und Börsenverein äußerten sich zu dem Fall überraschend unmissverständlich: "Meinungs- und Publikationsfreiheit stehen für uns an erster Stelle. Sie sind die Grundlage dafür, dass der freie Austausch in unserer Demokratie und die Buchmesse überhaupt möglich sind. Die Frankfurter Buchmesse und der Börsenverein setzen sich weltweit für die Freiheit des Wortes und Publikationsfreiheit ein. Deshalb steht für uns auch fest, dass Verlage, die sich im Rahmen der Rechtsordnung bewegen, auf der Buchmesse ausstellen können, auch wenn wir ihre Ansichten nicht teilen. Das Verbot von Verlagen oder Verlagserzeugnissen obliegt in unserem Rechtsstaat den Gerichten, und nicht einzelnen Akteur*innen wie der Frankfurter Buchmesse."
Gegen Vereinseitigung und Gleichmacherei
Dieses Bekenntnis zur Messe als Marktplatz der Ideen kann als Aufruf zu einem Mehr an Ambiguitätstoleranz gelesen werden und gegen Vereinseitigung und Gleichmacherei - ein Thema auch unseres Verlags mit seinem Anliegen, Erzählkunst und Erzählkultur zu befördern, die naturgemäß mehrdeutig und widersprüchlich sein müssen, weil wir Menschen es nun einmal sind. „Wir haben mit unseren Partnern ein umfangreiches diverses Programm zusammengestellt, um viele Perspektiven aufzuzeigen“, meinte sich Buchmessen-Direktor Juergen Boos in seiner Bilanz zur Buchmesse rechtfertigen zu müssen. Das war nicht nötig. Von der größten internationalen Buchmesse mit mehr als zwei Tausend beteiligten Unternehmen aus 80 Ländern, 37.500 gezählten Leserinnen und Lesern aus 85 Ländern und 36.000 Fachbesuchern, dem Gastland Kanada und einer Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe war das nicht anders zu erwarten - genau deshalb gibt es ja diesen weltgrößten Marktplatz für die Buchbranche, nunmehr seit 73 Jahren. Am Sonntag nutzten denn auch auf dem Frankfurter Goethe-Platz knapp einhundert Menschen die internationale Aufmerksamkeit, um ein Zeichen für die Meinungsfreiheit in Belarus zu setzen.
Dass das Schwarz-Weiß-Denken zum Ende gekommen ist, machte die Friedenspreisträger Tsitsi Dangarembga in ihrer Dankesrede mit der biblischen Geschichte Jonahs deutlich, der von einem Wal geschluckt wird. "Wenn ich heute vor Ihnen stehe, fühle ich mich, wie ich mir vorstelle, dass sich Jona im Wal gefühlt haben muss", sagte sie zu Beginn ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche. "Verschluckt von einem großen Tier wie ein vorbeitreibendes Stückchen Plankton, gelandet in den Eingeweiden eines riesigen Säugetiers, ohne zu wissen, wie er einen Weg hinaus aus dem großen aufgewühlten Magen finden soll ..." - ein Bild, das getrost auch auf das dichotomische Denken unserer Zeit mit seinen vielfältigen gesellschaftlichen Verwirrungen und wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen angewandt werden kann. Im Laufe ihrer Rede meinte die Autorin und Filmemacherin: "Das Gefühl, mich im Bauch des Wals zu befinden, betrifft vielleicht nicht nur mich. Mir wird zunehmend klar, dass wir alle im Bauch des Wals unseres derzeitigen Paradigmas sind."
Jonah verbleibt drei Tage im Wal, ehe er neu geboren wird und seinen von Gott gegebenen Auftrag annimmt. Dreierlei sind die Gottheiten in vielen Traditionen, aus drei Elementen bestehen Jahres- und Lebenszyklen und drei Schritte braucht es, um These und Antithese dialektisch in eine Synthese aufgehen zu lassen.
Um also aus dem Bauch des Wals zu gelangen, bedarf es, so Dangarembga, im Norden wie im Süden eines neuen Denkens, das über das rationale, autonome, in ihren Augen letztlich ausbeuterische, gierige Ich des Nordens hinaus geht und sich mit dem Ubuntu-Gedanken des Südens verbindet: "Wir sind, also denken wir". Sie endet optimistisch: "Dass jemand wie ich, die in nicht so ferner Vergangenheit aufgrund von demografischen Kriterien im schlimmsten Fall als nicht denkend, im besten Fall als nicht auf eine wertvolle Weise denkend und deshalb auf nicht wertvolle Weise existierend kategorisiert wurde, heute diesen Preis erhält, bezeugt die Fähigkeit für Wandel, die wir Menschen haben."
Und wenn schon das schwere Wort der "Ambiguitätstoleranz" gefallen ist, so muss auch die "Bibliodiversität" erwähnt werden: Die Vielfalt der Buchkultur ist insbesondere Thema für kleine, unabhängige Verlage, die ihre Milieus und Nischenthemen bedienen, in der Masse der veröffentlichten Titel jedoch allzu oft untergehen. Es fiel nicht nur uns auf, dass viele Menschen durch die in diesem Jahr extra-breiten Gänge lediglich durchschlenderten, einige an die Regale traten, um Titel eingehend zu prüfen, aber sich nur wenige ansprechen lassen wollten. Das kennen wir aus Leipzig anders. Etwas belebter wurde es nur am Samstag, als das erlaubte Kontingent von 25.000 Tageskarten ausgeschöpft werden konnte. An allen anderen Tagen waren mithin in den Messehallen weniger Menschen und unsere Bücher wurden weniger wahrgenommen als erhofft, womit wir wieder am Anfang unseres Berichtes angelangt sind. Die Frage bleibt, wie auch kleine Verlage mit ihren Titeln und weniger bekannten Autorinnen und Autoren in der medialen Aufmerksamkeitsökonomie sichtbar werden, ohne Fouls zu spielen (siehe oben) - einfach, weil sie gute, interessante, wichtige Bücher machen.
Wo Schatten sind, muss irgendwo Licht sein; doch im Bauch des Wals bleiben die mediale Diskursfähigkeit und die Fixierung auf vermeintliche Skandale dennoch - es ist zu hoffen, dass es bis zum notwendigen Wandel des Denkens (Tsitsi Dangarembga) lediglich die symbolischen drei Tage andauert.
Peter Amsler