Menschen sind mehr als die Summe ihrer Gene

 

 

 

 

 

 

"Der Einband des Buches zeigt ein Bild,
das Laura als Erwachsene gemalt hat.
Sie lebt in der Welt eines sechsjährigen Kindes,
obwohl sie längst erwachsen ist."
- Ute Arndt

 

 

Peter J. Wöll

Du bist ein verhüllter Engel

Warum gibt es Menschen mit Behinderungen?

330 Seiten, 15,5 x 22 cm, Klappenbroschur

ISBN 978-3-947831-55-5

20,00 €

 

Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch menschlich sinnvoll: Im Zuge steigender Bedeutung von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, Stichwort: Industrialisierung 4.0, kann diese Mahnung nicht oft genug wiederholt werden. Ein weites Feld für Ethiker ist die vorgeburtliche Diagnostik. Immer exakter schafft es die Apparatemedizin, die Wahrscheinlichkeit für Gen- bzw. Chromosom-Defekte und Erbkrankheiten mittels Bluttest, Triple-Tests und Fruchtwasserpunktionen beim noch nicht geborenen Menschen festzustellen. Die Bluttests werden sogar bald die Krankenkassen bezahlen, berichtet die Lebenshilfe Zeitung.

Die Wiener Chefärztin und Gynäkologin Barbara Meier äußerte sich dahingehend, dass das Nichtwissen um den Zustand eines ungeborenen Kindes „zunehmend als Schuld oder Haftung betrachtet“ werde.* Und in der Tat sahen sich ausweislich einer empirischen Untersuchung der Krefelder Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ruth Lümkemann bereits im Jahr 2001 die Mehrzahl der Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom nach der Geburt mit der Frage konfrontiert, warum man keine vorgeburtliche Diagnostik in Anspruch genommen habe, nämlich 72 Prozent der befragten Mütter und hundert Prozent der befragten Väter.**

Welche Eltern können sich frei für ihr Kind entscheiden, wenn Beeinträchtigungen, Fehlbildungen und ein lebenslanger Assistenzbedarf diagnostiziert werden und die Tötung des ungeborenen Lebens ärztlicherseits empfohlen und gesellschaftlich zunehmend erwartet wird?

„Wir sehen die nahezu ‚selbstverständliche‘ Nutzung der Pränataldiagnostik durch jede schwangere Frau als äußerst problematisch an. Insbesondere, wenn es um Untersuchungen zur Erkennung von Krankheiten geht, die nicht therapierbar sind.“

- Deutscher Behindertenrat

Ist der Schwangerschaftsabbruch „nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt“, wie es in § 218a, 2, StGB heißt, „um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“, stehen Eltern – wie es in den Richtlinien der Bundesärztekammer zur pränatalen Diagnostik heißt – in einer „im Kern nicht auflösbare(n) Konfliktsituation“.

Gewiss: Vorteil der vorgeburtlichen Diagnostik ist es, frühzeitig auf Fehlentwicklungen des ungeborenen Kindes eingehen zu können, so mittels medizinischer Behandlungen schon im Mutterleib oder direkt nach der Geburt. Auch können sich Eltern auf das Kommende vorbereiten, sofern sie sich nicht unnötig verrückt machen lassen. Es gibt aber Stimmen, die davor warnen, die vorgeburtliche medizinische Diagnostik als Instrument der Selektion zu nutzen. „Wir sehen die nahezu ‚selbstverständliche‘ Nutzung der Pränataldiagnostik durch jede schwangere Frau als äußerst problematisch an. Insbesondere, wenn es um Untersuchungen zur Erkennung von Krankheiten geht, die nicht therapierbar sind“, warnte der Deutsche Behindertenrat - ein Zusammenschluss großer Sozialverbände, der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe sowie unabhängiger Behindertenverbände - schon 2005 in einer Stellungnahme. Die Situation dürfte anderthalb Jahrzehnte später für Eltern nicht leichter geworden sein. 

„Menschen sind mehr als die Summe ihrer Gene!“ - Deutscher Behindertenrat

Wie anders ist der Blick der internationalen Camphill-Bewegung auf Menschen mit Behinderungen! „Unsere Kinder sind nicht nur da, dass wir ihnen helfen, sondern sie sind da, damit uns durch sie geholfen wird“, schrieb ihr Gründer, der Wiener Kinderarzt Karl König (1902-1966) ein Jahr vor seinem Tod. „Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, eine Kraft kann daraus entstehen, die heute so selten geworden ist, die wir alle zu verlieren scheinen und die doch so wichtig ist im menschlichen Zusammensein: Vertrauen in den anderen Menschen, Vertrauen in die göttliche Welt.“***
In der von Karl König und einer Gruppe von Medizinstudenten und Künstlern im Jahr 1939/40 im Exil begründeten und nach dem schottischen Anwesen Camphill-House bei Aberdeen benannten Lebensgemeinschaften arbeiten Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Beeinträchtigungen und Assistenzbedarf zusammen. Warum gibt es überhaupt Menschen mit Behinderungen? Eine einseitig materialistisch ausgerichtete Apparate-Medizin scheint keine Antwort auf diese Frage zu finden, geschweige denn sie überhaupt zu suchen: zu teuer, gesellschaftlich nicht gewollt, politisch nicht gefördert, weltanschaulich sinnlos, ohne Nutzenversprechen. Karl König meinte hingegen, in Menschen mit Behinderungen liege ein „offenbares Geheimnis“.

Peter J. Wöll kommt im vorliegenden Buch nach einer umfassenden Suche in philosophischen und religiösen Schriften hinsichtlich seiner mehrfachbehindeten Tochter zu einer fast gleichlautenden Antwort: „Du bist ein verhüllter Engel“. Seine einzige Tochter Laura – beide Namen sind Pseudonyme, um die Persönlichkeitsrechte der heute 27-Jährigen zu wahren – hat eine geistige Behinderung, ist schwer an Epilepsie erkrankt und tetraspastisch. Wöll erzieht und betreut seine Tochter seit ihrem fünften Lebensjahr allein. Er hat es nicht bereut. Er hat ihr sehr viel gegeben und noch mehr von ihr bekommen.

"Unsere Gesellschaft insgesamt hat ein Menschenbild entwickelt,
das das Wesen des Menschen nur oberflächlich beschreibt,
so dass uns ein tieferer Blick auf das Sein des Menschen fehlt."

- Peter J. Wöll

Der Verlag schreibt im Klappentext: „Dieses Buch soll keine Klage über die Schwierigkeiten des Alltags mit Menschen mit Behinderungen sein. Herausfordernde Erlebnisse zeigen aber, wie wichtig es ist, dass wir ein tieferes Verständnis vom Wert eines Menschen mit Behinderung entwickeln. Die Tatsache, dass einige oder viele Mitmenschen verständnislos oder ablehnend auf Beeinträchtigte reagieren, hat damit zu tun, dass ihnen dieses Verständnis fehlt. Unsere Gesellschaft insgesamt hat ein Menschenbild entwickelt, das das Wesen des Menschen nur oberflächlich beschreibt, so dass uns ein tieferer Blick auf das Sein des Menschen fehlt.“ 

Peter J. Wölls Buch geht über die übliche Ratgeberliteratur weit hinaus, wenn er schreibt: „Dass ein Kind mit Behinderung auf diese Welt kommt, ist nicht sinnlos. Es gibt viele Gründe, warum solches geschieht, und es gibt Antworten. Dieses Buch ist den Antworten gewidmet.“

Der Bericht über seine Suche nach dem Sinn der Gen- bzw. Chromosom-Anomalien seiner Tochter, ist aufgrund seiner Offenherzigkeit berührend und schonungslos zugleich. Seine Leitgedanken wurden im Wesentlichen von den Schriften der Bahá'í-Religion inspiriert, doch findet Wöll auch in den Schriften der anderen Hochreligionen seine Antworten. Der Autor scheut sich nicht, in Fragen von pränataler Diagnostik und Schwangerschaftsabbrüchen eigene Standpunkte einzunehmen, die heute gewiss gesellschaftlich keine Mehrheiten finden. Stets argumentiert er aber  im Ton unaufdringlich und tastet sich vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit seiner Tochter Schritt um Schritt fragend vor. Der 64-jährige nimmt seine Leser mit sicherer Hand auf eine innere Reise – so wird das Buch ein echter pageturner.

Ute Arndt urteilt: "Das Buch besticht durch das Nebeneinander von liebevoll geschriebenen Briefen an die Tochter, die diese nie wird lesen können, und den sehr fundierten Texten mit Erkenntnissen aus der Welt des Glaubens... Spannend zu lesen ist dabei der inhaltliche Gleichklang vieler Religionen, der mir ohne das phänomenale Wissen des Autors nicht bewusst geworden wäre... Die Schwierigkeiten, die das Leben mit einem beeinträchtigten Menschen mit sich bringt, klingen an, stehen jedoch nicht im Mittelpunkt des Buches... Gerade in der momentanen Corona-Pandemie wird die Frage nach dem Sinn des Lebens und davon ausgehend nach den eigenen Möglichkeiten und dem sinnvollen Weg durch dieses Leben von immer mehr Menschen gestellt. Dieses Buch kann jedem einzelnen helfen, Antworten darauf zu finden. Ein sehr lesenswertes, einfühlsames, Sinn gebendes, hoffnungsvolles, Mut machendes Buch!"

 

Peter Amsler

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* vgl. Barbara Maier: Ethik in Gynäkologie und Geburtshilfe. Entscheidungen anhand klinischer Fallbeispiele. Springer, Berlin 2000, S. 121

** vgl. Ruth Lümkemann: Down-Syndrom – die ersten Wochen. Erleben und Bewältigung der Diagnose durch die Eltern behinderter Kinder. unveröffentlichte Dissertation an der Universität des Saarlandes, Homburg (Saar) 2001

*** vgl. Freundeskreis Camphill e.V.: Karl Königs Brief an die Eltern vom 1. Mai 1965