Wohnzimmerworkshop: Erzählen mit allen Sinnen

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am vierten Wohnzimmerworkshop des Erzählverlags. Foto: Susan Parsia-Parsi                        

                  

Samstagmorgen in Berlin-Nikolassee in einem geräumigen Wohnzimmer mit Berliner Fenster, Balkon und Blick ins Grüne. Es treffen sich zwei Erzieher, ein Waldpädagoge, eine Lehrerin sowie die Trainerin Anna Speer zu einem Wohnzimmerworkshop, wie ihn der Erzählverlag bereits mehrmals veranstaltete: In einem geschützten Rahmen probieren sich Menschen künstlerisch aus, um ihr Repertoire an Methoden für die Weitergabe von Geschichten, Wissen oder Atmosphäre an Kindern und Jugendlichen zu erweitern. 

Die Märchenerzählerin, Sprachtherapeutin sowie Tschechow-Schauspielerin Anna Speer zeigt, wie sich Räume für das freie Erzählen eröffnen: äußerlich durch Hilfsmittel wie Klangschalen, Glocken oder Kostüm. Wichtiger sind ihr indes die inneren Räume. "Als Erzähler sind wir zugleich privat und nicht privat", sagt Anna Speer. "Wir tun als Privatpersonen etwas Besonderes und gehen dabei über eine Schwelle." Dies verdeutlicht sie mit einer ganzen Reihe einfacher, sich einander ablösender Übungen, die jedem Teilnehmer diesen inneren Raum auch physisch erlebbar machen. Es geht um Souveränität und Selbstbewusstsein. Die körperlichen Bewegungen führen zu seelischen und diese wiederum zu sprachlichen Bewegungen. Bewegung und Sprache sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. 

Anhand des kurzen Grimm'schen Märchens von dem Strohhalm, der Kohle und der Bohne (KHM 18) verdeutlicht sie die Kraft der inneren Bilder. Die Teilnehmer schmücken das Märchen zu einer längeren Erzählung mit vielfältigen Bildertableaus aus und reduzieren es schließlich entgegengesetzt in einen kurzen und sachlichen Bericht. Worauf kommt es an? Was ist der rote Faden und wie gestalten sich die Etappen der Handlung? Strukturieren erleichtert die Aneignung einer Geschichte, weiß Anna Speer.

 

"Polaritäten machen die Erzählung lebendig!"

 

Ein Blick auf den Atem, den Sitz der Stimme und die Artikulation zeigt, wie einzigartig jede Erzählung ist. "Die Laute, die ich bilde, sind gestalteter Atem, den ich abgebe", so Anna Speer. "Das bedeutet", ist sie sich sicher, "dass der Welt etwas fehlt, wenn ich nicht spreche." Dieser Gedanke hilft ihr, immer wieder neu über die Schwelle des Privaten zu gehen und sich in ihren Märchenerzählungen zu zeigen. Die Sprache gestaltet sich während der Erzählung in Polaritäten: schnell - langsam, laut - leise, weit - eng, sympathisch - antipathisch. "Polaritäten machen die Erzählung lebendig!" Nach gemeinsamer Mahlzeit und einem Kaffee geht es mit Übungen zur Aneignung von längeren Texten weiter. Bälle und Stühle helfen.

Die Durchdringung des Themas "Erzählen mit allen Sinnen" bleibt bis zum Nachmittag auf einem hohen Niveau. Anna Speer führt die Pädagoginnen und Pädagogen souverän in die Kunst des bildhaften Erzählens ein. Meine kleine Erkenntnis am Ende eines intensiven Tages: Noch vor dem freien Erzählen kommt das Sprechen, das Gestalten der Stimme und die Artikulation. Erst mit Stimmbildung und Sprachgestaltung bekommt das freie mündliche Erzählen seinen künstlerischen Reiz. Nur gut, dass Anna Speer eine Erzählambulanz bereitstellt, mit der sie ad-hoc Hilfestellungen geben kann. Erreichbar ist sie über ihre Internetpräsenz. Der Verlag wird die Veranstaltungsreihe fortsetzen.

 

Peter Amsler

 

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