Wer überwindet die Krise der Kultur? Wir selbst!
Sechzehn Interessierte zählten wir am Ende eines langen Tages: Liebhaber der Erzählkunst, Nachbarn und Freunde des Hauses ließen sich nicht abschrecken. Sie trafen sich, fast möchte man sagen „klandestin“, im Haus des Erzählverlags in Berlin-Zehlendorf, um Lesungen und Erzählkunst zu erleben.
Über den Tag waren fünf Veranstaltungen angesetzt. Um zehn Uhr ging es mit Male Springborn los. Sie wollte ein Bilderbuchkino aus ihrem Buch „Luftikus und die Frühlingsbrise“ präsentieren. Da kam noch niemand. Zur 12-Uhr-Veranstaltung waren vier Nachbarskinder da, die die Geschichte rund um das Mädchen der Sioux, Tonka, und ihrem Freund Krähenfeder aufmerksam aufnahmen, sich danach aber schnell wieder verabschiedeten. Zwei Stunden später kamen wir mit Kati Pfau ins Gespräch. Eigentlich sollte sie aus ihrem Buch „Nebel überm Müggelsee“ Alt-Berliner Sagen erzählen. Doch da niemand sonst da war, sprachen wir mit ihr über das alles beherrschende Thema: die Pandemie.
Fast schon trotzig mutete es an, als nachmittags um vier dann doch noch Besucher zu unserer Hausmesse kamen. Teilnahmsvoll nahmen sie die biografischen Erzählungen aus der kommenden Neuerscheinung „Neun Leben“ auf, und es entspannte sich ein reger Austausch über die Rolle der Religionen in einer offenen Gesellschaft. So war es gedacht. Am frühen Abend dann der Höhepunkt: Eine Riege Erzählerinnen und Erzähler vom Verein „Erzähler ohne Grenzen“ kam nach einer langen Tagessitzung interessiert und neugierig gestimmt ins beschauliche Papageienviertel nach Zehlendorf, um den Verlag ihrer Anthologie „Im Auge des Sturms“ einmal selbst in Augenschein zu nehmen. Natürlich brachten sie ihre Geschichten mit und nacheinander trugen sie sie zur Freude des Publikums, das den Raum nun doch ordentlich ausfüllte, gutgelaunt vor. So sollte es sein.
Dies trug sich am 14. März 2020 zu. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein.
Die kleine Hausmesse des Erzählverlags wenige Tage vor dem umfassenden Kontaktverbot war als notdürftiger Ersatz zum ersten eigenen Stand des Verlags und seinen halben Dutzend Veranstaltungen in den Lesebuden der Messe sowie im Rahmen des Lesefestivals „Leipzig liest“ gedacht. Wenige Tage zuvor war die Leipziger Buchmesse abgesagt worden und es blieben nur vier Tage Zeit, etwas Lokales auf die Beine zu stellen.
Erzählkunst ohne Publikum
Seitdem wurde die ausgerufene Pandemie das alles bestimmende Thema und bereits diese kleine Veranstaltung, mehr privat als geschäftsmäßig, wurde für manchen, der eigentlich dabei sein wollte, schon recht früh zur unüberwindbaren Hürde. Kontakt- und Ausgangssperren und die unvermeidlichen „Brennpunkte“ im Fernsehen begannen, den Alltag zu bestimmen. Für Literatur, Theater und Kunst, Erzählkunst allzumal, blieb kein Raum.
Kunst- und Kulturschaffende mussten schmerzlich erfahren: Sie werden von Staats wegen in der Krise nicht gebraucht und vor lauter Angst ist ihnen ihr Publikum abhandengekommen. Eilends aufgebaute digitale Lösungen ließen zwar den einen oder die andere auch während der Kontakt- und Ausgangssperren hör- und sichtbar bleiben, doch zeigte beispielsweise das Videoformat Artist against Corona, dass Bühnenkünstler sich ohne Publikum sichtlich unwohl fühlen.
Schnell und unbürokratisch bedachten Bund und Länder Kleinstunternehmen aus allen Wirtschaftsbereichen sowie Soloselbständige und Angehörigen der Freien Berufe mit Soforthilfen ob ihrer ausfallenden Erlöse. Doch jene, von deren Kreativität das produzierende Kulturgewerbe lebt, im Falle des Erzählverlags sind das vor allem die freien Erzählerinnen und Erzähler, Darsteller und Sprachgestaltende, fallen bis heute durch das Rost staatlicher Großzügigkeit. Da sie keine laufenden Betriebskosten vorweisen können, sprich: die Voraussetzungen für ihre schöpferische Tätigkeit sich nicht materialisieren lässt, und der Ausfall der Honorare buchstäblich nichts zählt, wurde ihnen ihre Bedeutungslosigkeit bitter vor Augen geführt. Sie sind nicht „systemrelevant“.
Zu der staatlichen Nichtachtung kommt hinzu, dass Politik und Medien die sich tastenden Bewegungen der Wissenschaftler, die Wirklichkeit des neuartigen Virus zu erforschen, dazu benutzten, ein robustes gesellschaftliches Klima der Angst und der Abschreckung zu erzeugen. Wie schnell änderten sich in der Folge die Regeln des Menschlichen!
„Umwertung aller Werte“ (Friedrich Nietzsche)
War es zuvor ein zivilisatorischer Fortschritt, dem Anderen angstfrei begegnen zu können (Odo Marquard), für einen Moment die Perspektive zu wechseln, um diskursfähig zu bleiben, so war es plötzlich ein Zeichen von Dummheit, nicht dem Alarmismus und ihren medialen Überzeichnern zu folgen. „Sprechen stellt womöglich größte Gefahr dar“ [sic!], hieß eine von vielen Schlagzeilen, mit denen auf die Gefährlichkeit der Seuche hingewiesen wurde. Und war es zuvor nobel, den Ältesten und den Jüngsten nahe zu sein und ihren besonderen Bedürfnissen Bedeutung zu geben, war es nun genau umgekehrt. Nobel wurde es, auf Abstand zu gehen. Es wurde nobel, Alte ungefragt und vielfach ungewollt entmündigt in die Isolation zu geben - „zu deren Schutz“, wie es hieß. Und es wurde nobel, Kinder, zumal aus bildungsfernen Familien, den Launen der Erwachsenen und der Macht der Geräte auszusetzen – „zu deren Schutz“ -, um nur zwei der Arbeitsfelder von freien Erzählerinnen und Erzähler zu benennen.
Die intransparente und enggeführte Art und Weise, wie mit der gesundheitlichen Krise staatlich und gesellschaftlich umgegangen wird, bringt vielfältige psychosoziale Instabilitäten hervor. Das Leben der weitaus meisten Bundesbürger in fortdauernder kognitiver Dissonanz, wonach sie und ihre Lieben gesundheitlich nicht betroffen sind - und sich dies Stand heute aufgrund der vergleichsweisen geringen Fallzahlen als wenig wahrscheinlich darstellt -, sie hingegen seitens der Politik und den Medien kontinuierlich mit den zweifelsohne vorhandenen Gefahren der Pandemie konfrontiert werden, lassen selbst gesunde Menschen aus ihrem psychosozialen Gleichgewicht bringen. Kontaktarmut, Ungewissheiten und Insolvenzen verstärken überdies vorhandene Angststörungen und Spleens.
Warum wir erzählen
Alternative medizinische Beurteilungen wurden bislang genauso aus dem Entscheidungsdiskurs ausgeschlossen wie politische, soziologische, wirtschaftliche, religiöse und psychologische Gesichtspunkte der Pandemie sowie ihrer Bekämpfung. Kurz: Die Tatsache, dass wir Menschen nicht nur als etwas Materielles wahrzunehmen sind, sondern auch soziale und geistige, immaterielle Dimensionen in uns haben, die von innen genauso immunstärkend und Resilienz fördernd sind, wie es von außen verträgliche Medikamente und eine solide ärztliche Behandlung sind, wird derzeit weitgehend ausgeblendet.
Denn warum erzählen wir? Weil es uns zu eigen ist, die Welt zu gestalten und schöpferisch tätig zu sein. Wir schaffen Beziehungen und bauen Brücken. Über diese gehen unsere Worte, die den anderen trösten, unterhalten, ermutigen, staunen lassen, Wissen und Ideen vermitteln, Atmosphäre schaffen, gewinnen möchten, anklagen oder entlarven. Diese und viele weitere sozial-kommunikativen Funktionen erfüllt das Erzählen. Mehr noch: Jedem Vokal und Konsonanten unserer Sprache wohnt eine eigene Bedeutung inne, die durch Laute und Töne zum Ausdruck kommt und die uns beim Sprechen, Erzählen oder Singen weit über die Semantik des Wortes hinaus mit der Sphäre des Geistigen verbindet.
Wonach steht mir der Sinn?
Da das nihilistische und rein aufs Materielle gerichtete Denken, Fühlen und Handeln sich einstweilen im öffentlichen Leben durchgesetzt hat und besonders die Agenturen für Wertebildung und Transzendenz wie Kirchen und Religionen, Theater- und Konzerthäuser genauso wenig „systemrelevant“ sind wie die freien Erzählerinnen und Erzähler, kann sich derzeit nur der Einzelne den gegenwärtigen Einseitigkeiten und Maßlosigkeiten entgegenstellen. Technik kann dafür sinnvoll sein, doch nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch wirklich sinnvoll. Vor allem erscheint es angemessen, die mit unseren Sinnen so massiv aufgenommene Disharmonie an sich widersprechenden Meinungen und Unstimmigkeiten im öffentlichen Diskurs bis auf das Nötigste auszublenden und ihnen eigene Handlungen entgegenzustellen.
Bereits Mitte März empfahl die Weltgesundheitsorganisation: „Beschränken Sie das Anschauen, Lesen oder Hören von Nachrichten über COVID-19, die sie ängstlich oder verzweifelt machen, auf ein Minimum.“ Und sicherlich wird die gegenwärtige Berichterstattung der gängigen Medien dazu beitragen, dass sie künftig noch weniger konsumiert werden und sich Alternativen dauerhaft etablieren.
Am Ende sind es allein die eigenen Handlungen, mit denen wir gestalterisch in das Geschehen des eigenen Lebens, ins nahe Umfeld und in die Gesellschaft einwirken. Sie machen den Unterschied oder, um Mahatma Gandhi zu zitieren: „Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt.“ Je stärker die politische und mediale Rhetorik von „Wellen“ geprägt ist, die uns überschäumen, oder vom „Krieg“, der uns überrollt, desto notwendiger wird das Erleben, Protagonist des eigenen Lebens zu sein.
Aufnehmen und Gestalten kommen in die Balance
So gibt es Menschen, die damit begonnen haben, eigene Soundcloud-Plattformen zu initiieren, auf denen freie Künstlerinnen und Künstler ihre erzählten Seelenbilder veröffentlichen können. Autorinnen und Autoren halten mit einfachen Mitteln Lesungen aus ihren Werken ab, bei denen sie sich filmen und die Leselounge die Übertragung direkt ins Wohnzimmer des Publikums bringt. Eine Schauspielerin beginnt, Freunde und Nachbarn einzuladen, sie biografisch zu befragen und das Ganze für einen Video-Kanal zu filmen. Auf Facebook teilt eine Erzählerin Schritt für Schritt ihren Einarbeitungsprozess in ein neues Sujet. Kinder arbeiten online mit Jugendlichen, die ihnen helfen, Briefe der Solidarität an isolierte Nachbarn zu schreiben. Wiederum andere geben sich die Erlaubnis, morgens in kleinen Gruppen durch den Wald zu gehen, um am Ende des Weges und bei Sonnenaufgang auf einer Wiese gemeinsam feierlich schöne Rundtänze und Gesänge zu begehen.
Diese und viele weitere Handlungen, von denen jeder und jede berichten kann, sind in ihrer Einfachheit zunächst nur Mittel der eigenen Verarbeitung des gegebenen Krisenszenarios. Sie unterstützen, sich als Protagonist des eigenen Lebens zu empfinden und psychosoziale Stabilität zu erlangen. Ob sie nachhaltig Bestand haben, erscheint mir zweitrangig. Zu wünschen ist es, und um die notwendigen Mittel werden wir ringen müssen.
Was bekommt die Welt durch mich?
Über den ganzen Tag verteilt hangen zwei große Plakate im Veranstaltungsraum des Erzählverlags. Die Besucherinnen und Besucher der Hausmesse am 14. März 2020 waren eingeladen, zwei Fragen zu beantworten: „Wonach steht mir der Sinn?“ und „Was bekommt die Welt durch mich?“. Jeder und jede nahm davon Gebrauch und veröffentlichte eine oder mehrere Antworten auf Klebezettel, die wiederum auf die Plakate geheftet wurden. „Natur“ und „Ruhe“ waren zwei Antworten auf die Frage nach dem Sinn. Und: „Tanz, Musik, Farben“. Oder: „Geborgenheit“, „Begeisterung“, „Freude schenken“, „Gemeinschaft“ – Antworten, die heute weit aus mehr als vor drei Monaten im Kontrast zu den Zeitläufen stehen.
Jeder der Gäste, ob männlich oder weiblich, wusste außerdem, was die Welt durch ihn bekam, was sie bereit war, dafür zu geben: „Schöne Geschichten“, „Empathie“, „Liebe für alle Menschen“, „trösten“, „Lieder singen“, „Freude geben“, Aufmerksamkeit schenken“ und vieles mehr. Nur so kann es gehen.
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