Über das Erzählen von alten Sagen

Die in dem Buch von Kati Pfau "Nebel überm Müggelsee" wiedergegebenen Sagen zur Gründung und Entwicklung Berlins gehören zu den historischen Sagenstoffen, die außerordentliche Gestalten oder Ereignisse vergangener Zeiten zum Inhalt haben. Die Stoffe wurden ursprünglich mündlich tradiert und knüpften an reale Personen und Ereignisse an, verbanden sie aber mit magischen und mythischen Elementen.

 

Die Gründungssagen Berlins erklären das Werden der Hauptstadt im Zuge mittelalterlicher Ostbesiedlung christlicher Völker aus dem Westen des Heiligen Römischen Reiches („Deutsche“ bzw. „Franken“) im Spannungsfeld mit vorhandenen paganen Bevölkerungsgruppen slawischer Heveller („Wenden“). In ihrer ursprünglichen Fassung bilden die gewaltsame Überwältigung und weltanschauliche Durchsetzung der Franken ein wiederkehrendes Narrativ.

 

"Darf die Autorin das?"

 

Kati Pfau belebt die Alt-Berliner Sagen neu, indem sie die Protagonisten der sechs Sagen überraschende Wege gehen lässt.  Sie erzählt, wie Albrecht der Bär aus Liebe Berlin gründete, was das Kreuz an der Marienkirche mit Neid zu tun hat, warum eine Riesin den Berlinern eine Rippe schenkte, wie die Jungfernbrücke und die Allee Unter den Linden zu ihren Namen kamen und von den Weisen Frauen am Müggelsee, die allen helfen, die in Not sind.

 

Die professionelle Märchen- und Sagenerzählerin sowie Dozentin der Märchentherapie aus Zossen (Brandenburg) füllt die mittelalterlichen Sagen mit Werten wie Mitgefühl, Duldsamkeit, Mut, Treue sowie Reue und Vergebung, indes ohne das historische Ambiente zu vernachlässigen. Kati Pfau versetzt die Gründungsagen Berlins damit in eine postheroische Zeit, die den gewaltsamen Mythos der Auseinandersetzungen zwischen deutsch-christlichen Kolonisten und slawisch-paganer Stammbevölkerung im Duktus des Romance-Genres überschreibt. 

 

Die Frage, die sich stellt ist: Darf die Autorin das? Allgemein gefragt: Dürfen Sagen eigentlich in einen anderen Kontext gestellt werden? Ein Kontext, der von den Sagen, wie sie in den Grundschulen beispielsweise in der Heimatkunde bis heute gelehrt werden, abweicht? Die Erzählforschung - ich beziehe mich auf Richard Wossidlo und Siegfried Neumann - hat nach breiter Sichtung persönlicher Volkserzählungen gezeigt, dass gleiche Erzählgegenstände seit jeher sehr unterschiedlich geformt sein können. "Was mündlich an historischen Erinnerungen überliefert wurde, war natürlich weit stärker der Variabilität unterworfen als das nachlesbare Gedruckte", schreibt Siegfried Neumann zur Einführung seiner Aufsatzsammlung "Erzählwelten" (Waxmann-Verlag 2018). Die Persönlichkeit der erzählenden Person, die Erzählsituation, die Erzählintention und die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der Hörenden: Erzählen ist ein Kommunikationsakt, der Beziehungen aufbaut, Atmosphäre schafft  und Werte und Wissen vermittelt. Ich meine daher: Die erzählten "seelischen Bilder" sollten die Erlaubnis erhalten, über diese Brücken zu gehen, um ihre Wirkung zu entfalten, freilich anders als es sich die Sagensammler aus dem 19. und 20. Jahrhundert dachten. 

 

Um dies weiter zu erläutern, versetze ich Sie zurück ins 11./12. Jahrhundert: Was zu der Zeit an Spree und Havel genau geschah, ist nur durch wenige Quellen und daher kaum nachzuvollziehen. Da die Heveller keine Schrift hatten, stammt das heutige Wissen über die Zeit vornehmlich aus christlichen Quellen. Diese decken sich indes auch mit archäologischen Erkenntnissen.

 

In der Sage stehen sich zwei Gruppen gegenüber: christliche Vertreter des sich bildenden Heiligen Römischen Reiches in der Nachfolge des Sachsenherzogs und römisch-deutschen Kaisers Ottos des Großen sowie pagane Slawen, Heveller genannt. Sie waren der südlichste Teilstamm der westslawischen Lutizen, des Bundes westslawischer Stämme im östlichen Mecklenburg, in Vorpommern und im Havel- und Elbgebiet. Brandenburg an der Havel und Spandau bildeten die Zentren des Stammes der Heveller. Östlich von ihnen, getrennt durch einen breiten Waldgürtel, lebten an der Spree die Sprewanen mit ihrem politischen Zentrum Köpenick.

 

Im Zuge der Ostbesiedlung wurde die slawische Bevölkerung teilweise verdrängt, besonders wenn sie sich der kulturellen und religiösen Umstellung widersetzte, sonst aber in das Siedlungswerk mit einbezogen. So war die Landnahme durch im Westen des Reiches angeworbene Siedler häufig ein vertraglich geregelter Vorgang, bei dem in der schwach besiedelten Landschaft Dörfer und Städte neu gegründet und mit Siedlern besetzt wurden. Die Motive waren auf beiden Seiten vor allem der Wunsch, die einträglichere sächsische Rechts- und Wirtschaftsordnung einzuführen. Auf dem zugewiesenen Siedlungsland lockten wirtschaftliche Vorteile, verbesserte Kulturtechniken und größere persönliche Freiheit.

 

Der christliche Glaube wurde gewiss nicht per se kriegerisch verbreitet, doch stellte die Tributpflicht einen großen Zwang da, der sich auch in Auflehnung entlud.  Hierbei sticht ein Interessengegensatz zwischen den slawischen Fürsten und ihren Völkern hervor. So war der letzte Hevellerfürst Pribislaw-Heinrich (-1150) Taufpate des Sohnes von Albrecht von Ballenstedt (der Bär, 1100-1170) und damit bereits zum christlichen Glauben konvertiert. Schon sein Vorgänger Meinfried muss Christ gewesen sein. Bereits unter ihrer beider Herrschaft wurden im Heveller-Gebiet Kirchen gebaut. Bodenfunde belegen, dass ein längeres Nebeneinander von Christen und Paganen stattgefunden haben muss. 

 

Nach den erfolgreichen Slawenaufständen 200 Jahre zuvor, gelang es den Christen im 12. Jahrhundert das Heveller-Gebiet, Brandenburg bis Spandau, doch noch ins Reich einzubinden. Die Ostgrenze verlief damit zwischen den beiden slawischen Stämmen, den Hevellern und den Sprewanen. Denn auf der östlichen Seite in Köpenick residierte der Sprewanenfürst Jaxa von Köpenick (1125-1176), der sich politisch weiter in den Osten, nach Polen, orientierte.

 

Nach dem Tod Pribislaw-Heinrich im Jahr 1150 fiel Brandenburg an der Havel per Erbrecht an Albrecht von Ballenstedt bzw. an das Heilige Römische Reich. 1157 sah der Slawenfürst Jaxa die Gelegenheit gekommen, Brandenburg an der Havel für die Slawen zurückzuerobern. Die Heveller, die im Gegensatz zu ihrem Fürsten teilweise noch den alten slawischen Gottheiten nachhingen, standen Albrechts Machtübernahme ohnehin ablehnend gegenüber. Durch List, Geschick und Verrat brachte Jaxa den Herrschersitz gewaltsam an sich, doch eroberte sich Albrecht von Ballenstedt sein Erbe schon im gleichen Jahr wieder zurück. Die Übergabe der Burg an Albrecht, der sich nun Markgraf nannte, und der Abzug Jaxas nach Köpenick gilt als die Geburtsstunde der Mark Brandenburg. 

 

Soweit es der Stand des Wissens mithin heute zulässt, kann gesagt werden, dass die Osterweiterung des Heiligen Römischen Reiches und die Etablierung Berlin-Brandenburgs als dessen Grenzmark mitnichten nur mit Gewalt stattfand. Die Interessenlagen waren komplex, die Übernahme der fremden Rechtsordnung, eines neuen Glaubens und neuer Technologien und Wirtschaftsweisen war nicht selten auch im Interesse der Alteingesessenen. 

 

Der festgeschriebene Mythos, wie sie in den althergebrachten Sagen nicht selten zum Ausdruck kommt, betont demgegenüber die Grausamkeit der slawischen Heveller, die ihre christlichen Gefangenen in Käfige sperrten und in einem Brandopfer ermordeten - und lässt die christlichen Helden umso herrlicher strahlen: "Das ganze Innere Triglavs aber war angefüllt mit gefangenen Christen, die nun als Brandopfer dargebracht werden sollten. Der Oberpriester schritt auf den darunter aufgeschichteten Holzstoß zu und entzündete ihn. Da konnte sich Albrecht nicht länger halten. Er warf den schützenden Mantel ab und zückte sein Schwert, um seine Glaubensgenossen zu befreien. Ein Wutgeheul umbrandete ihn..."  (zitiert nach Sagen und Geschichten aus Alt-Berlin. Gesammelt von Hellmuth Neumann. Ernst Oldenburg Verlag Leipzig 1925. Reihe Meine Heimat: Berlin Band 1, S. 3ff)

 

Es liegt auch bei der Gründungssage Berlins auf der Hand: Der Sieger schreibt die Geschichte - um gewiss die Besiegten ein zweites Mal zu schlagen, mehr noch aber, um ein emotionales Fundament für die eigene Nationenwerdung zu legen. (vgl. dazu Mythen der Nationen: Ein paneuropäisches Panorama. Hrsg. von Monika Flacke. München, Berlin 1998). Es überrascht nicht, dass insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert, beginnend mit der Romantik, die Deutschen begannen, zuvor frei erzählte Sagen und Märchen schriftlich zu fixieren: auch auf sie gründete sich der politische Kampf für den deutschen Nationalstaat.

 

"So vieles ist aus der Balance gekommen!"

 

"Geschichten sind die Wurzeln unseres Zusammenlebens. Aus den Geschichten, die wir uns erzählen, entstehen Kulturen", meint auch Kati Pfau, wenn sie ihre Beweggründe schildert, die Alt-Berliner Sagen neu zu erzählen. "Die Geschichten zur Gründung Berlins, die selbst auch erfunden wurden, sind grausam und aus dem Geist des Eroberns heraus geschrieben, nämlich aus der Sicht der Franken, die die slawischen Gebiete erobert haben."

 

Diese Geschichten aber strahlen aus bis heute, meint die Autorin.  "Für mich heißt das: Wenn wir uns die alten Geschichten neu erzählen, dann strahlen sie eben nicht mehr Grausames aus, sondern Liebevolles. Denn so vieles ist aus der Balance gekommen, es gibt so viel Leid und Unglück, und gerade deswegen finde ich, müssen wir uns die Geschichten neu erzählen, die davon berichten, wie wir freudvoll miteinander leben können." 

 

Dürfen Sagen also neu erzählt werden? Ja, warum denn nicht, meine ich, sie wurden doch immer wieder neu erzählt. Und Kati Pfaus Neuerzählungen kommen zur rechten Zeit. 

 

Peter Amsler