Grimm frei erzählen

Dass verschiedene Zeugen eines Unglücks das Geschehen gegenüber der Polizei jeweils anders darstellen, ohne freilich den Umstand selbst in Frage zu stellen, ist leicht verständlich. Zu unterschiedlich sind die Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen. Dass diese Binse auch für Märchenerzählungen gelten soll, ist jedoch immer mal wieder Gegenstand interessanter Diskussionen: Darf man die Märchen der Brüder Grimm frischer erzählen? Etwas anders, als es die Texte der Buchmärchen aus dem 19. Jahrhundert vorgeben? Oder verlieren dann Sprache und Sinn? Ich meine, man darf.

 

Die Erzählforschung - ich beziehe mich hier auf Richard Wossidlo und Siegfried Neumann - hat nach breiter Sichtung persönlicher Volkserzählungen gezeigt, dass gleiche Erzählgegenstände seit jeher sehr unterschiedlich geformt sein können. "Was mündlich an historischen Erinnerungen überliefert wurde, war natürlich weit stärker der Variabilität unterworfen als das nachlesbare Gedruckte", schreibt Siegfried Neumann zur Einführung seiner Aufsatzsammlung "Erzählwelten" (Waxmann-Verlag 2018). Die Persönlichkeit der erzählenden Person, die Erzählsituation, die Aufnahmefähigkeit und -Bereitschaft der Hörenden: Erzählen ist ein Kommunikationsakt, der Beziehungen aufbaut, die diese Gesichtspunkte berücksichtigen sollte. Die erzählten "seelischen Bilder" sollten die Erlaubnis erhalten, über diese Brücken zu gehen, um ihre Wirkung zu entfalten. 

 

In diesem Sinne erzählt Janine Schweiger die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm auf eine Weise, die von den Buchmärchen mal deutlich, mal zaghaft abweicht. Sie erlaubt sich grobe Ergänzungen und zugleich Änderungen en dé­tail, wo immer es ihr eigenes Verständnis und die Bedürfnisse des Publikums erfordert.

 

Im zweiten Band der Reihe Der Westentaschenerzähler hat sie fünf erste Märchen ausgewählt, die sie seit nunmehr zwölf Jahren professionell auf der Bühne vor Groß und Klein erzählt: Frau Holle, Hans im Glück, Schneeweißchen und Rosenrot, Der Froschkönig und Rumpelstilzchen. Vorangehen jeweils kurze, erläuternde Hinweise, die Auskunft über ihr Verständnis der Grimmschen Buchmärchen geben, mal launig, mal ernst. In dem vierten Band des Westentaschenerzählers hat sie fünf weitere Märchen aufbereitet: Sterntaler, Die Sieben Raben, Rapunzel, Fundevogel und Sechse kommen durch die Welt.

 

Der Erzählverlag hat diese beiden Bücher sehr gerne im Programm. "Wo stehst Du? Wie machst Du es?", sind die Leitfragen dieser Reihe. Erzählerinnen und Erzähler geben Auskunft über ihre Arbeit. Für je 9,90 € sind die Bände hier zu bestellen.

 

Peter Amsler