Durch die Nebel in die Anderwelt

Am 2. Juli 1961, also einen guten Monat vor dem Mauerbau, in Staaken geboren kann ich mich inzwischen zu den Berlinern zählen, auch wenn ich das bisher nicht gern getan habe. Kati Pfau mit ihrer Neuerzählung von sechs Alt-Berliner Sagen und Steffen Faust mit seinen Illustrationen haben mir einen neuen Zugang zur Großmetropole und ihren Bewohnern eröffnet, indem sie nicht nur weit in die Vergangenheit schauen, sondern auch hinter die sichtbare Welt.

 

Ich muss gestehen, dass ich keine der alten Sagen kannte, auch nicht die Gründungssage. Sie trägt die Überschrift "Der Bär". Wie könnte es anders sein, ist doch der Bär Berlins Wappentier. Aber nie vorher bin ich auf die Idee gekommen, das "e" im Wort Berlin durch ein "ä" zu ersetzen.

 

"Edle Frau! Vor einiger Zeit feiertest du auf dieser Insel in einer besonderen Nacht ein Fest. Auf jenem Fest sah ich dich das erste Mal und ich hörte, wie du verkündetest, derjenige, der dir als erster einen Bären zu Füßen legt, würde deine Hand gewinnen. Nun, schau dich um. Dies ist mein Bärlin und ich lege es dir zu Füßen."

 

Der Freier heißt Albrecht, wird der Bär genannt und ist ein Herzog der Askanier. Er war in dieses Land gekommen, um eine neue Heimat zu finden.

 

"Die gesegnete Rippe" ist die eines Riesen, der bei den Menschen zu Tode kommt. Seine Mutter vergibt den Berlinern und überreicht ihnen eine Rippe ihres Sohnes. "Wenn ihr eines Tages wieder vergessen solltet, dass ihr nicht die einzigen Wesen auf dieser schönen Erde seid, und hartherzig und ungerecht werdet gegen Fremdes und Unverständliches, dann sollt ihr die Rippe meines Sohnes ansehen und euch daran erinnern, dass alle Wesen eine Mutter und einen Vater haben." Wie wunderschön!


"Ich muss gestehen, dass ich keine der alten Sagen kannte, auch nicht die Gründungssage. Sie trägt die Überschrift "Der Bär". Wie könnte es anders sein, ist doch der Bär Berlins Wappentier."

Vera Seidl


Die dritte Sage gefiel mir am besten, weil in ihr die Marienkirche eine Rolle spielt. Wie lange ist es jetzt her, dass ich eine Freundin zu den Chrorproben in die Marienkirche begleitete? Mehr als 40 Jahre. Die Freundin starb noch in ihrer Jugend. Aber die Kirche erinnert mich an sie.

 

Um das Kreuz vor der Kirche gibt es viele Sagen. Die neu erzählte von Kati Pfau heißt "Der fliegende Mantel".

 

Ein französischer Vater findet mit seinen neun Töchtern in Berlin eine neue Heimat. Er selbst ist Schneider, die Mädchen klöppeln auf einer Brücke über dem Spreekanal. Charlotte ist dem Hofschneidergehilfen Franz zugetan. Der bittet auch um ihre Hand. Aber das gefällt dem Zollmeister Dietrich nicht, so dass es zu einer nächtlichen Rauferei kommt, bei der Charlotte ins Wasser fällt. Alles geht gut aus. "Blanchett aber, der stolze Vater, gab für alle dort an jener Brücke ein prächtiges Morgenmahl. 'Jungfernbrücke soll sie heißen', rief er, und das sogar auf Deutsch!" Eine alte Witwe aber spricht von wundersamen Spreefrauen, die Charlotte gerettet hätten.

 

Die letzte Sage trägt den Titel des Buches, "Nebel überm Müggelsee". Danija ist die Tochter des Knez Jako, des Fürsten der Sprewanen. Sie liebt den Fischer Milan. Als sie den Krieger Antek ehelichen soll, flieht sie und findet hinter einer Hecke im Wald eine Siedlung der Weisen, unter ihnen ihre verschollene Mutter. Die Liebenden heiraten, gehen aber dann mit den anderen "durch die Nebel in die Anderwelt", wo ihnen Jako und Antek nichts mehr anhaben können, von der es aber auch kein Zurück gibt.

 

Eine Sage habe ich hier ausgelassen und möchte stattdessen auf deren Illustration eingehen. Drei junge Burschen stehen im Hintergrund und schauen recht betrübt aus. Ein jeder hält ein Bäumchen in der Hand, trägt es aber mit der Baumkrone nach unten und den Wurzeln nach oben ausgerichtet.

 

Im Vordergrund sieht man ein kleines Männchen mit einem spitzen Hut, dessen Schnalle denen an den Schuhen gleicht. Es raucht eine Pfeife und sieht dabei viel wissender und vergnüglicher aus als die jungen Leute im Hintergrund. 

 

Ich danke Steffen Faust vielmals für die Illustrationen und Kati Pfau fürs gefühlvolle Erzählen der Sagen.


Kati Pfau

Nebel überm Müggelsee. Sechs Alt-Berliner Sagen neu erzählt

240 Seiten, 10,8 x 17 cm, Softcover

Der Westentaschenerzähler, Bd. 5

ISBN 978-3-947831-25-8

 

Bereits in zweiter Auflage!

12,90 €


Vera Seidl wurde 1961 im Land Brandenburg geboren, wo sie noch heute lebt. Sie ist Seele, Mensch, Christin, Kinderdiakonin, Religionspädagogin, Autorin und Medium. "Raphaela - Gott heilt" war ihr erster Roman. Ihm folgten Lyrik und Essays mit dem Titel "Gott is(s)t Honig" und zwei Bücher mit Film- und Buchrezensionen, "(Von) Gott erschaffen" und "(Gottes) vollkommene Schöpfungen".